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„Sie haben für jedes Land, mit dem Schweden in diplomatischer Beziehung steht, ein Desk“, begann Barbro die Besprechung um drei Uhr. Sie war soeben aus dem Außenministerium am Gustav Adolfs Torg zurückgekehrt, wo sie den ganzen Vormittag verbracht hatte. „Das ist ein Schreibtisch, an dem die Informationen und die diplomatische Korrespondenz gesammelt werden.“

Barbro legte die Füße auf den Tisch, solange sie noch allein mit Kjell im Besprechungsraum war. Als nächste traf Theresa ein, genau in dem Moment, als Kjell den Kaffee gekocht und den Tisch gedeckt hatte. Theresa strahlte. Das musste nicht unbedingt auf einen Erfolg hinweisen, so gut kannte Kjell Theresa inzwischen. Sie strahlte, wenn sie mit ihrem Dasein im Augenblick ganz zufrieden war, und es bekümmerte sie offenkundig nicht im Geringsten, dass alle unangenehmen Arbeiten bei ihr landeten.

Kjell ließ sie schon einmal mit ihrem Bericht beginnen, während sie noch auf Henning warteten. Er hatte den ganzen Vormittag Zeugenaussagen gelesen und darin nach einem Haken gesucht. Im Moment saß er an seinem Schreibtisch und telefonierte mit der Zentrale von Interpol in Lyon. Dort hatte man Zugriff auf die Datenbanken fast aller Länder. Wenn die Finger- oder Ohrabdrücke, das Porträt oder die DNA der Toten in irgendeiner nationalen Datenbank gespeichert waren, würde man sie in Lyon finden. Die Schwierigkeit lag darin, die Franzosen an einem Sonntagnachmittag im Frühling zur Arbeit zu überreden.

„Wir sind Katholiken“, pflegte der zuständige Mitarbeiter dort sonst zu antworten. „Warum sollen wir an den Folgen der Reformation leiden, wenn wir gar nicht mitgemacht haben?“

Kjell konnte bis hierher in den Besprechungsraum hören, wie Henning den Hörer seines Telefons auf die Gabel fallen ließ. Kurz darauf erschien er in der Tür.

„Wir haben jetzt die Bestätigung, dass das Mädchen von einem Fest in der Handelshochschule gekommen ist“, sagte Kjell zur Begrüßung.

„Sofi hat vorhin angerufen. In Linköping hat es einen Durchbruch gegeben, von dem sie sich viel verspricht.“

Das musste nichts heißen, dachte Kjell. Sofi verbrachte den größten Teil ihrer Tage damit, sich etwas zu versprechen. „Worum geht es?“

„Sie ist auf dem Weg hierher. Die Frau soll aus Italien stammen, und zwar aus Tarquinia.“

Henning hielt ein Büchlein in die Höh. „Ein Reiseführer. Den habe ich mir von Ragnar geliehen. Er fährt doch immer nach Italien in den Urlaub und hat solche Sachen in seinem Büro liegen.“

Das stimmte. Der Leiter der Ermittlungsgruppe gegen Wirtschaftsverbrechen hatte das ganze Büro voller Bildbände mit italienischen Kirchen.

„Wie bist du in sein Büro gekommen?“, wollte Barbro wissen.

„Bin hinter der Putzfrau durch die Tür gehuscht. Über Tarquinia steht nicht sehr viel darin. Heute ist es eine winzige Küstenstadt, die etwa achtzig Kilometer nördlich von Rom liegt. Lange etruskische Geschichte. Der letzte König von Rom stammte von dort, und heute kann man wie in Ägypten bunt bemalte Gräber anschauen.“

„Italien also“, sagte Kjell und kratzte sich am Kopf.

Theresa stand auf. „Ich frage bei der Botschaft nach, ja?“

Als sie an Henning vorbeiwollte, fuhr der seinen Arm aus wie einen Schlagbaum.

„Denk nach!“, rief Kjell.

„Worüber soll ich nachdenken?“

„Über deinen verwegenen Plan. Warum sollst du die Botschaft nicht anrufen?“

Theresa blickte zwischen ihren Kollegen hin und her. „Weiß nicht. Ich hätte es gemacht.“

Kjell und Henning tauschten Blicke aus. Theresas Standhaftigkeit gegen jeden Erwartungsdruck war eines ihrer größten Talente als angehende Ermittlerin.

Kjell bedeutete Theresa, wieder auf ihrem Stuhl Platz zu nehmen und half ihr auf die Sprünge. „Eine Tote, wahrscheinlich Italienerin, wahrscheinlich Mord. Sie hat ein diplomatisches Kuvert bei sich. Wir haben das Kuvert geöffnet.“

„Ich soll die Sache militärischer sehen. Schweden gegen Italien. Meint ihr das?“

Barbro lachte. „Du sollst die Sache diplomatischer sehen. Zuerst muss ich mal am Italien-Desk im Außenministerium nachsehen, ob die Tote als diplomatische Person akkreditiert ist.“

„Das glaube ich nicht“, murmelte Henning dazwischen. „Wir haben ja schon die Liste des gesamten diplomatischen Korps in Stockholm überprüft.“

Kjell wandte sich demonstrativ an Theresa. „Und deshalb wollen wir erst einmal darüber nachdenken, ob und welcher Verbindung die Frau zur italienischen Botschaft stehen könnte.“

Theresa nickte. Das hatte sie verstanden.

Dann erschien Sofi. Heute gelang ihr kein lautloser Auftritt. Kjell sah ihr sofort die bekannte Sofi-Johansson-Aufregung an. So sehr er Ida liebte, Sofi würde für alle Zeit sein lyrisches Du bleiben.

„Wisst ihr es schon?“, fragte sie.

Henning schüttelte den Kopf. Das Spannende an der Geschichte hatte er Sofi überlassen wollen. Sie berichtete.

„Und? Was denkst du?“, wollte sie am Ende von ihrem Chef wissen.

„Ist doch klar, dass sie wahrscheinlich von den Etruskern abstammt, wenn sie von dort kommt“, sagte Kjell. „So wie ich wahrscheinlich von Gustav Vasa abstamme.“

Barbro quittierte diesen Vergleich mit einem pikierten Auflachen. So disqualifizierte man in Östermalm völlig abwegige Anmaßungen.

Sofi ließ sich auf ihren Stuhl fallen, griff nach ihrer Kaffeetasse und schenkte sich Wasser ein. „Ihr versteht den Kern der Sache nicht. Die anderen Toskaner stammen eben nicht von einer etruskischen Urmutter ab, jedenfalls ist sie der einzige Mensch unserer Zeit, der den gleichen Haplotyp hat wie eine zweieinhalb Jahrtausende alte Mumie aus Tarquinia. Die mtDNA ist in diesem Fall also nicht nur Mittel, um die Identität der Toten zu ermitteln. Hier hat sie eine eigene Aussage.“

Alle schwiegen für einen Augenblick.

„Hast du geprüft, ob das Krypto Etruskisch ist?“, fragte Sofi ihren Kollegen Henning.

„Liebe Sofi“, antwortete der. „Ich habe es in neun Jahren Schule nicht geschafft, richtig Englisch zu lernen, wie soll ich da in einer Stunde Etruskisch lernen?“

„Hatten die Etrusker überhaupt eine eigene Sprache?“, fragte Sofi.

Kjell nickte.

„Und wer könnte sich damit auskennen?“

„Ich jedenfalls nicht“, antwortete Kjell. „Wenn ich mich nicht irre, weiß die Wissenschaft gar nicht so viel über das Etruskische, Sofi. Es sind so wenig Bruchstücken davon überliefert, dass man gar nicht in dieser Sprache kommunizieren kann.“

Barbro machte seinen Ausführungen ein Ende. „Du bist also skeptisch. Ich auch.“

Sofis Blick verdüsterte sich. Das gelang ihr mit ihren schwarzen Augen ganz ausgezeichnet. „Ich bin deswegen nach Linköping gefahren, komme mit einem konkreten Ergebnis zurück, und ihr seid skeptisch. Was habt ihr denn herausgefunden?“

„Ich bin im Außenministerium am Türkei-Desk gesessen, weil Hans gestern vermutet hat, sie könnte von dort stammen. Jetzt weiß ich so ziemlich alles über dieses Land und seine Menschen.“

„Sollen ja ganz putzige Leute sein, diese Türken“, behauptete Kjell und tippte mit der Spitze seines Kugelschreibers auf der Tischplatte herum.

Alle schielten zu Theresa, aber die bekam den Seitenhieb nicht mit.

Sofi wandte sich an Kjell. „Und was machen wir jetzt?“

„Wir suchen uns einen Experten.“

Sofi atmete auf und sprang vom Stuhl. Kurz darauf schallte die Begrüßungsfanfare ihres Computers durch die Räume.

„Ich fahre wieder zum AM“, sagte Barbro und brach endgültig auf.

Die anderen gesellten sich zu Sofi. Sie rief die Internetseite der Universität von Uppsala auf und auch die der Stockholmer.

„Fang mit Uppsala an“, riet Henning. „Die sind altmodischer. Wir brauchen ja keine Expertin für feministische Töpfertheorien.“

Sofi ging die Liste der Institute durch. Am Ende blieben die Archäologie und die Sprachwissenschaft. Bei der Archäologie wurden nur Namenslisten aufgeführt, und man konnte nicht herausfinden, mit welchen Ländern und Epochen sich das Institut überhaupt beschäftigte.

„Willkommen in der Welt der Sprache!“, las Henning vom Bildschirm ab, als Sofi die andere Möglichkeit ausprobierte.

„Es gibt eine Abteilung für nordische Sprachen, Englisch, moderne Sprachen und Linguistik“, las Sofi vom Bildschirm ab. „Ich nehme dann wohl Linguistik. Hier! Klassische Sprache.“

„Das kannst du vergessen“, sagte Kjell. „Klassisch sind nur Latein und Griechisch.“

Sofi gab auf und probierte etwas anderes. Sie tippte Stichwörter in eine Suchmaschine ein und überflog die Treffer. „In Uppsala hat jemand einen Artikel über Gewänderikonografie in etruskischen Gräbern in der archaischen Periode geschrieben. Verfasser: P. Breston. Kann Herr Breston Etruskisch?“ Sofi wartete nicht auf eine Antwort, sondern suchte die Person. „Breston, Pauline. Forscher. pauline.breston@arkeologi.uu.se. Soll ich ihr eine E-Mail schreiben?“

„Die sie dann beantwortet, wenn das Semester wieder beginnt?“, fragte Kjell. „Such sie mal im Polizeiregister.“

Nach einer Minute atmeten alle auf. Pauline Breston stammte aus Liverpool in Großbritannien und hatte sich sogar beim Migrationsamt angemeldet. Sie wohnte in der Umgebung der Universität, doch eine Telefonnummer bekam Sofi nicht heraus. Sie suchte noch nach dem Beginn der Ferien in Uppsala, aber der Terminplan enthielt nur Einträge wie den gemeinsamen Pilzepflücktag der geisteswissenschaftlichen Institute.

„Schau mal, ob es für die Juristen einen gemeinsamen Elchjagdtag gibt“, sagte Henning. „Das würde mich interessieren.“

03 - Der kopflose Engel
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